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Ein geeigneter Maßstab

Armut bedeutet in weiten Teilen Afrikas etwas völlig anderes als in Europa oder Nordamerika. Doch selbst in den reichen Ländern gibt es zu viele Menschen in Not.

Die Weltbank, die wohl wichtigste Institution der Entwicklungshilfe, definiert Menschen als extrem arm, wenn sie weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Kaufkraftunterschiede sind dabei berücksichtigt. Kein Wunder, dass Industrieländer wie Deutschland so gut wie frei von absoluter Armut sind. In Ländern wie Nigeria und Togo ist dagegen mehr als die Hälfte der Bevölkerung betroffen. Weltweit hat sich die Zahl der extrem Armen von 1990 bis 2017 von 1,9 Milliarden auf etwa 696 Millionen verringert. Setzt man die Anzahl der von extremer Armut bedrohten Menschen in Relation zur Weltbevölkerung, ergibt sich ein Rückgang von 35,9 Prozent auf 9,3 Prozent. Diese Entwicklung ist umso beachtlicher, da die Weltbevölkerung in dieser Zeit rasant wuchs.

Für Industrieländer sagt die Armutsdefinition der Weltbank natürlich wenig aus. Für reiche Staaten ist deshalb die relative Einkommensarmutsgefährdung (besser Niedrigeinkommensquote genannt) das gebräuchliche Maß: Darunter fallen alle, die über weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten Medianeinkommens verfügen. Der Median teilt die Bevölkerung in zwei gleich große Gruppen: Die eine Hälfte hat mehr Geld, die andere weniger. Die Bedarfsgewichtung dient dazu, Haushalte unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung miteinander vergleichbar zu machen und erfolgt mithilfe der neuen OECD Skala (siehe Glossar). Daran gemessen betrug der Anteil der von relativer Einkommensarmut bedrohten Bevölkerung (Niedrigeinkommensbezieher) im Jahr 2019 laut Mikrozensus 15,9 Prozent in Deutschland; etwas weniger als der Durchschnitt der EU-Staaten. Allerdings liegt der Schwellenwert für einen Alleinlebenden in Deutschland mit knapp unter 1.100 Euro auch etwa doppelt so hoch wie zum Beispiel in Portugal.

Trotz ihrer Popularität ist das relative Einkommensarmutsrisiko also kein geeigneter Maßstab für materielle Armut, denn auch unterhalb der 60-Prozent-Grenze ist in vielen Fällen ein passabler Lebensstandard möglich, etwa wenn die statistisch Armen im eigenen Haus wohnen oder Unterstützung von Verwandten bekommen. Daher wird sie oftmals auch als Niedrigeinkommensquote bezeichnet. So fallen beispielsweise viele Studenten unter die Armutsgefährdungsschwelle, obwohl einige von ihnen ihr Leben als privilegiert bezeichnen würden. Die Europäische Kommission betrachtet deshalb noch zwei weitere Werte: die Deprivation oder auch erhebliche materielle Entbehrung sowie eine sehr niedrige Erwerbstätigkeit. Erhebliche materielle Entbehrung liegt vor, wenn vier von neun Grundbedürfnissen aus finanziellen Gründen nicht befriedigt werden können. Dazu gehört unter anderem, die Wohnung angemessen zu heizen und sich mindestens jeden zweiten Tag eine warme Mahlzeit mit Fisch oder Fleisch leisten zu können. Eine sehr niedrige Erwerbstätigkeit ist dann gegeben, wenn die tatsächliche Erwerbsbeteiligung der erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder im Alter von 18 bis 59 Jahren weniger als 20 Prozent beträgt.

Armut oder soziale Ausgrenzung

Die EU betrachtet also jene Menschen als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, die entweder ein geringes Einkommen haben, auf vieles scheinbar Selbstverständliche verzichten müssen oder nur äußerst geringfügig beschäftigt sind. Gutverdiener, die ihr Geld verprassen und deshalb pleite sind, fallen nicht unter diese Definition – ebenso wenig wie Geringverdiener, die dank ihrer Ersparnisse oder einer disziplinierten Haushaltsführung gut zurechtkommen. In Deutschland galten 2020 demnach etwa 17 Prozent der Menschen als von Armut oder materieller Entbehrung bedroht. Der EU-27-Durchschnitt lag bei knapp 21 Prozent. Die niedrigsten Werte in Europa verzeichnen Länder wie Island, Tschechischen, Slowenien, Dänemark oder Finnland; Staaten wie Bulgarien, Rumänien und Lettland die höchsten. Aber auch Griechenland, Spanien und Italien weisen hohen Quoten aus.